Was bringt Akupunktur? Über die Wirkung des Pieks
INS GLEICHGEWICHT

Akupunktur: «Ich will alles über meine Patienten wissen»

Akupunktur soll vollbringen, woran die westliche Schulmedizin scheitert. Der Schweizer Arzt Dr. Hans Niederberger praktiziert Chinesische Medizin. Über die Therapie mit dem Pieks gibt er hier Auskunft.

Es klingt verlockend. Ein paar Nadeln, gezielt gesetzt, und Migräne, Gelenksschmerzen oder Asthma verschwinden. Akupunktur, ein Teilgebiet der Traditionellen Chinesischen Medizin, kurz TCM, findet immer mehr Anhänger. Und das, obwohl Diagnose und Therapie für westliche Ohren erst einmal gewöhnungsbedürfig klingen. Nämlich so: «Wenn jemand unter einem Wind-Exzess leidet, kann das zu einer Störung im Energiesystem Leber-Gallenblase führen», erklärt Dr. Hans Niederberger. Und fügt hinzu: «Zum Funktionskreis Leber gehört übrigens auch der Zorn, der Frühling und das Auge. Das sind Entsprechungen bei der 5-Elementenlehre für das Element Holz.»

Als Dr. Hans Niederberger in den 80er Jahren die Traditionelle Chinesische Medizin für sich entdeckte, war er erst zwei Jahre als Schulmediziner tätig. Er sammelte in der Psychatrie erste Erfahrungen als Arzt und war mit den Behandlungsergebnissen schlichtweg unzufrieden: «Man verabreichte Medikamente, um die Patienten ruhig zu stellen, kam aber nicht vom Fleck und erzielte keine richtige Heilung.» Niederberger, der schon immer gerne reiste und sich für fremde Kulturen interessierte, stiess auf TCM und fand in ihr, was er bei der westlichen Medizin vergeblich suchte – eine Methode zur Behandlung funktioneller Störungen, also Erkrankungen, für die es keine organische Ursache gibt.

Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)

Die Traditionelle Chinesische Medizin gründet auf einem einheitlichen Denkmodell, das aus fünf Elementen besteht:

Die Lebensenergie Qi fliesst auf unsichtbaren Bahnen, den Meridianen, von der Körpermitte zu den Extremitäten und wieder zurück. Wird dieser Fluss gestört, gerät das Qi aus dem Gleichgewicht und es kommt zu Störungen. Um das Qi im Gleichgewicht zu halten, benötigt es den Ausgleich der beiden Pole Yin und Yang.

Akupunktur – wenn das Qi nicht mehr fliesst

Hans Niederberger überliess die Schulmedizin anderen und reiste nach Hongkong und Shangai, wo er sich mittels Dolmetschern auf dem Gebiet der Chinesischen Medizin schulen liess. Und das bedeutete zunächst ein völlig neues Denksystem anzunehmen. Denn laut TCM verläuft die Lebensenergie (das Qi) auf Bahnen (den Meridianen) durch den Körper. Ist dieser Fluss gestört, kommt es zu Störungen. Durch gezielte Stiche an einem der 361 Akupunktur-Punkte sollen diese behoben werden und die Energie wieder fliessen. Hans Niederberger war überzeugt und eröffnete Mitte der 80er Jahre in Solothurn eine Praxis, die sich ausschliesslich der Akupunktur widmete. Für die damalige Zeit unüblich, musste sich die Methode doch noch den Vorwurf der Scharlatanerie gefallen lassen. Aber der Erfolg gab dem Mediziner recht. «Anfangs kamen ausschliesslich austherapierte und hoffnungslose Patienten, die schon alles versucht hatten und bei denen die schulmedizinische Behandlung zu keinem Ergebnis führte. Mit der Akupunktur wurden ihre Beschwerden aber plötzlich besser.» 

Was bringt Akupunktur? Über die Wirkung des Pieks

Kleine Nadeln, grosse Wirkung

«Bei Asthma frage ich nach der Verdauung»

Manche schwören auf das Setzen von Nadeln, weil sie Alternativen zu klassischen Medikamenten und Schmerzmitteln suchen. Für andere greift Akupunktur dort, wo die Schulmedizin an ihre Grenzen stösst. Die Beweggründe von Patienten mögen individuell sein, die Diagnose folgt immer dem gleichen Schema. Während sich die westliche Medizin auf Sicht- und Messbares, Röntgenbilder und Labordaten bezieht, betrachtet die Chinesische Medizin den Menschen als Ganzes. Welchen Einflüssen ist er ausgesetzt? Wann treten die Beschwerden auf? Wie gestaltet er sein Leben? Fragen, die sich westliche Schulmediziner selten stellen. Symptome werden gesondert betrachtet, der Dermatologe kümmert sich um die Haut, der Lungenfacharzt um das Atmungsorgan.

Ich will alles über meine Patienten wissen

Völlig falsch, findet Hans Niederberger, stehen diese beiden doch miteinander in Verbindung. So kann es möglich sein, dass ein Patient, der unter Asthma leidet, zuvor ein Ekzem hatte, das mit Cortison behandelt und von der Haut verdrängt wurde. Es wanderte nach innen und löste das Asthma aus. Hans Niederberger erkundigt sich auch nach dem Stuhlgang. Nach der Chinesischen Medizin hängen Lunge und Dickdarm ebenfalls zusammen. Auch die Jahreszeit interessiert den Mediziner – ist das Asthma bei Kälte oder Wärme besser? Und zu welcher Tageszeit? «Ich will alles wissen», fasst er seine Behandlungsmethode zusammen, denn «nur das Lungenvolumen des Asthma-Patienten zu kennen, bringt mir nichts.» In einem zweiten Schritt stellt er eine Pulsdiagnose. Die chinesische Medizin kennt 31 verschiedene Pulsqualitäten, die Hans Niederberger mittels dreier Pulstaststellen an beiden Handgelenken diagnostizieren kann. Klopft der Blutstrom unter der Fingerkuppe heftig oder weich? Ist er dünn, breit oder behäbig? Zuletzt sieht er sich die Zunge an. Auch diese ist in verschiedene Bereiche gegliedert, welche wiederum eine Zugehörigkeit haben. «All das führt zu einer chinesischen Diagnose, anhand derer ich die Akupunktur-Punkte auswähle.»

 

Was bringt Akupunktur? Über die Wirkung des Pieks

Die Traditionelle Chinesische Medizin kennt 361 Akupunkturpunkte

Der Placebo-Effekt: Was bringt Akupunktur?

Die Wirkung von Akupunktur wird allerdings immer wieder in Frage gestellt. Studien, die ihre Wirksamkeit belegen sollen, werden aufgrund der Methodik angezweifelt. Die bisher ausführlichsten Untersuchungen liefern die fünfjährigen German Acupuncture Trials, kurz: GERAC. Sie sagen der Akupunktur zwar eine gewisse Wirkung nach, allerdings zeigte sich diese auch, wenn die Behandlung nicht an den klassischen Punkten erfolgte, sondern an benachbarten Stellen. «Hauptsache es sticht», bringt der Mediziner Benedikt Matenaer den Vorwurf der Scheinakupunktur und des Placebo-Effekts gegenüber Zeit Wissen auf den Punkt. Matenaer liess sich selbst zum Akupunkteur ausbilden – und wurde anschliessend zum Kritiker. «Die Chinesische Medizin entbehrt jeglicher Grundlage», begründet er seine Skepsis. «Wenn Sie Fragen stellen, die in die Tiefe gehen, werden die Antworten sehr weich.»

Hauptsache es sticht

Trotz zahlreicher Kritiker und fehlender wissenschaftlicher Beweise hat die Weltgesundheitsorganisation 2003 eine Liste mit Erkrankungen veröffentlicht, bei denen sie eine Akupunkturbehandlung empfiehlt. Und auch in der Schweiz wurde 2009 darüber entschieden, dass Krankenkassen komplementärmedizinische Methoden zukünftig berücksichtigen sollen. Von 2012 bis 2017 wird die Wirkung von fünf alternativen Therapien, darunter auch TCM, geprüft und anschliessend über eine Aufnahme in die obligatorische Grundversicherung entschieden. Fünf Jahre Zeit, um sich in Sachen Glaubwürdigkeit zu profilieren.

«Die chinesische Medizin ist eine individuelle Medizin»

«Ja, die Wissenschaftlichkeit...», erwidert Hans Niederberger, spricht man ihn auf den Mangel an Studien an. «Die Beweisführung ist in der Schulmedizin einfach eine ganz andere. Sie verabreicht hundert Patienten, die unter einer Infektion leiden, ein bestimmtes Antibiotikum, und beobachtet die Wirkung. Die chinesische Medizin ist hingegen eine individuelle Medizin.» Demnach werden bei Studien für Migräne-Patienten immer die gleichen Punkte gestochen, doch das kann einfach nicht funktionieren, erklärt Niederberger. «Ihre Migräne wird vielleicht durch eine Leber-Energiestörung verursacht, die eines anderen durch eine Fülle oder Schwäche der Nieren- oder Magenenergie.» Zudem können nur erfahrene Akupunteure akurat behandeln, ein oder zwei Jahre Erfahrung reichen nicht. Und auch den Vorwurf der Scheinakupunktur weiss der Mediziner zu entkräftigen: Setzt man die Nadeln nicht auf den klassischen Punkten, aber zumindest auf den richtigen Energiebahnen, kann es auch zu einer Verbesserung kommen. Und nach einer kurzen Denkpause: «Wenn alles Placebo wäre, hätte ich keine Erfolge.»

Akupunktur: Nadeln und Zeit für Alltagssorgen

Erfolge, die nicht nur bei Patienten mit Asthma oder Migräne zu verzeichnen sind. Auch die Seele kann mit ein paar Stichen wieder ins Lot gebracht werden – beispielsweise bei Stress, Prüfungsangst oder Burn Out. «Gerade bei psychischen Erkrankungen hat man mit der Akupunktur grosse Erfolge, denn hier ist die Energetik nicht mehr im Gleichgewicht.» Dass man lediglich mit dem Setzen von Nadeln eine besseren Work-Life-Balance erreicht, bezweifelt aber auch Hans Niederberger. «Wenn jemand mit Burn Out zu mir kommt, behandle ich ihn nicht, damit er anschliessend noch mehr arbeiten kann. Das ist natürlich Unsinn!»

Der Mensch rückt wieder in den Mittelpunkt

Doch er unterhält sich mit seinen Patienten und nimmt sich Zeit. Spricht mit ihnen über Gott und die Welt, ihren Lebensstil, grosse und kleine Sorgen. Rät ihnen dazu, den Fuss vom Gaspedal zu nehmen, nicht mehr durchs Leben zu rauschen, die Seele baumeln zu lassen und mal wieder Urlaub zu nehmen – am besten drei Wochen am Stück, denn weniger ist Unsinn. Der Mensch rückt wieder in den Mittelpunkt.Während die Schulmedizin Symptome lindert, sucht Hans Niederberger nach den Ursachen. Dass er dabei Nadeln setzt, mag helfen oder nicht. Ein Mediziner, der sich für seine Patienten Zeit nimmt und ihnen das Gefühl gibt, ernstgenommen zu werden, ist in Zeiten von Fliessband-Diagnosen aber sicher nicht unbedeutend. Die Schulmedizin verurteilt Hans Niederberger trotzdem nicht, vielmehr plädiert er für ein Nebeneinander – wo es Sinn macht. Tumore mit Akupunktur zu behandeln wäre fahrlässig, Patienten mit Medikamenten ruhig zu stellen, aber auch. Kommt er bei einem Klienten nicht weiter, schickt er ihn zum Hausarzt. «Kein System erfüllt jeden Wunsch», resümiert er.

Akupunktur in der Schweiz

Über die Assoziation Schweizer Ärztegesellschaften für Akupunktur und Chinesische Medizin (ASA) finden Sie eine Liste von Schweizer Ärzten (FMH), die den Fähigkeitsausweis «TCM Akupunktur» besitzen. Akupunkturbehandlungen werden von Schweizer Krankenkassen nur dann bezahlt werden, wenn diese bei Ärzten erfolgen, die über eine entsprechende Weiterbildung verfügen.
Zur Person: Hans Niederberger studierte Medizin und entdeckte in den 80er Jahren die Traditionelle Chinesische Medizin für sich. In seiner Praxis in Solothurn behandelt er Patienten unter anderem mit Akupunktur. akupunktur-niederberger.ch

Text und Gespräch: Nina Grünberger / Titelbild: Jacob Wackerhausen, iStock, Thinkstock; zweites Bild: filmfoto, iStock, Thinkstock; drittes Bild: Ingram Publishing, Thinkstock

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