Ein paar Karotten, eine Stange Sellerie und ein Apfel. Das war Rohkost früher. Inzwischen ist sie in Gourmet-Küchen eingezogen. Doch Kritiker befürchten damals wie heute einen Nährstoffmangel. Zweifel, die Anhänger kaltlassen. Wir sprachen mit einer Rohköstlerin und einer dipl. Ernährungsberaterin HF über die rohe Küche.
Meine Gastritis ist verschwunden und meine Haut hat sich komplett verändert. Ich brauche auch kein Nachmittagsschläfchen mehr, sondern habe Energie für den ganzen Tag», erzählt Iris Zajac. Die Erfahrungsberichte klingen alle sehr ähnlich. Hier wird von neu gewonnener Lebenskraft berichtet, dort von regelrechten Energieschüben. Körperliche Beschwerden und Krankheiten sollen verschwinden. Menschen, die sich von Rohkost ernähren, schwärmen von der unkonventionellen Ernährungsform und den Veränderungen, die sie mit sich bringt. So auch Iris Zajac, die den Blog rawforgood betreibt und deren Küche seit Anfang 2013 kalt bleibt.
Rohkost und das Ideal der natürlichen Nahrung
Rohkost, das heisst Lebensmittel so unbehandelt wie möglich zu konsumieren: Frisch, knackig und meistens eben roh. Der Gedanke dahinter ist einfach: Erhitzt man Gemüse oder Obst auf über 42 Grad, so Rohköstler, würden wichtige Stoffe zerstört. Enzyme, die für eine gesunde Verdauung notwendig seien, verkochen im Topf, hitzeempfindliche Vitamine verbruzeln in der Pfanne.
«Ja, einige Stoffe sind hitzeempfindlich», bestätigt Steffi Schlüchter von der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung SGE. «Allerdings sind bei der Zubereitung die Dauer und die Höhe der Temperatur ausschlaggebend. Auch, ob mit viel oder wenig Wasser gekocht wird. Darum empfehlen wir, Lebensmittel schonend zuzubereiten. So bleiben genügend Vitamine erhalten.» Wenn Tomaten, Peperoni und Zucchini nicht mehr als solche erkennbar sind, hat man es mit dem Kochen also zu gut gemeint. Wer das Gemüse schonend dünstet oder gart, schützt einen sehr grossen Teil der Vitamine, sagt Steffi Schlüchter. Iris Zajac hadert trotzdem mit der Hitze. «Ich möchte es mal sehr einfach ausdrücken: Beim Kochen, ob schonend oder nicht, verändern sich Farbe, Textur und Geschmack. Für mich macht es einfach keinen Sinn, bewusst Nährstoffe zu zerstören, das Essen verliert an Intensität und Kraft.»
Was Rohköstler sagen...
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Das Erhitzen von Lebensmitteln zerstört wichtige Nährstoffe und Vitamine.
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Lebensmittel sollen unbehandelt gegessen werden.
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Rohkost sorgt für mehr Vitalität, kann das Hautbild verbessern und körperliche Beschwerden lindern.
Rohköstler argumentieren aber nicht nur mit einem Nährstoffverlust. Für sie ist Rohkost schlichtweg die ursprünglichste aller Ernährungsformen und genau das, was dem Körper gut tut und er verarbeiten kann. Der deutsche Rohkostpionier Helmut Wandmaker («Willst du gesund sein? Vergiss den Kochtopf») ging sogar noch einen Schritt weiter: Er war davon überzeugt, dass der Mensch aufgrund seiner genetischen Zusammensetzung gar nicht für gekochte Nahrung gemacht ist.
Die ungekochte Wahrheit: Natürliche Giftstoffe
«Diese Aussage ist schlicht grotesk», sagt Steffi Schlüchter. Die Ernährungsberaterin kennt dafür keine wissenschaftlichen Belege. Ganz im Gegenteil, manche Stoffe wie das Betacarotin in Ruebli werden erst durch Erhitzen für den Menschen zugänglich. Und verschiedene Gemüsesorten würden, in rohem Zustand gegessen, sogar zu Vergiftungserscheinungen führen. «Unter der Schale, an Keimstellen und den grünen Teilen von Kartoffeln ist vermehrt Solanin enthalten, welches in grösseren Mengen schleimhautreizend wirken und zu Augenbrennen, einem kratzendem Hals, Kopfschmerzen, Leibschmerzen und Durchfall führen kann», erklärt sie. Durch das Kochen wird das Gift unschädlich gemacht.
Was Kritiker sagen...
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Rohkost ist eine einseitige Ernährung, die zu Mangelerscheinungen führen kann.
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Rohkost ist nicht für Risikogruppen wie Kinder, Schwangere oder ältere Menschen geeignet.
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Einige Lebensmittel enthalten natürliche Giftstoffe, die erst durch das Kochen unschädlich gemacht werden. Andere werden erst durch das Erhitzen zugänglich.
«In meinen Augen gibt es Gründe, warum manche Pflanzen ungekocht für uns schädlich sind», sagt Iris Zajac. «Es gibt genügend Nahrungsmittel, die uns von Natur aus zur Verfügung stehen und schmecken. Nach diesen Kriterien wählen auch Tiere instinktiv ihre Nahrung aus.»
Es hat einen Grund, warum uns manche Pflanzen ungekocht schaden
Der Instinkt und das Vertrauen darauf, dass der Körper weiss, was er braucht, werden von Rohköstlern immer wieder angeführt. Iris Zajac erzählt, dass sie sich oft nur von Salat, Smoothies, Beeren, Melone und Weintrauben ernährt. Ihr natürliches Körpergewicht habe sich mit der Zeit eingependelt. Sie benötigt inzwischen viel weniger Nahrung und reagiert auf die falsche wesentlich empfindlicher. Kritiker bezweifeln aber, dass der Körper wirklich all das bekommt, was er benötigt. Sie warnen vor einer einseitigen Ernährung, die zu Mangelerscheinungen führt; denn Nährstoffe wie Eiweiss, Kalzium, Jod oder Vitamin D bleiben oft auf der Strecke. Menschen, die sich von Rohkost ernähren, seien aufgrund der geringeren Energiezufuhr öfter untergewichtig und durch den übermässigen Verzehr von Früchten und die darin enthaltene Säure könne es zu Zahnschäden kommen, heisst es.
Sind sich nicht grün: Ernährungswissenschaft und Rohköstler
Doch wer Iris Zajac sieht, dem fällt es schwer zu glauben, dass die junge Frau nicht gesund wäre. Braungebrannt statt blass, zierlich statt knochig. Reine Haut und lange, glänzende Haare. Bräuchte es ein Testimonial für die Rohkost-Bewegung, Iris Zajac wäre das perfekte Aushängeschild. «Rohkost ist in unserer Gesellschaft noch wenig verbreitet und stösst oft auf Misstrauen. Doch Menschen, die mich vorher kritisiert haben, sind jetzt viel offener. Was soll man auch sagen, wenn man sieht, dass jemand gesund ist und aufblüht?»
Zur Rohkost gibt es noch keine fundierten wissenschaftlichen Studien
Kann Rohkost also schaden, wenn sich ihre Anhänger so gut fühlen? «Individuelle Erfahrungen bilden keine Fachmeinungen», sagt Steffi Schlüchter. Denn zur ausschliesslichen Rohkost-Ernährung gibt es nach wie vor keine fundierten wissenschaftlichen Studien. Aber auch die Schweizer Gesellschaft für Ernährung SGE empfiehlt, Gemüse und Obst möglichst roh zu essen, macht es allerdings nicht zum Dogma. Von einer strikten Rohkost abraten würde Steffi Schlüchter aber Risikogruppen, wie Säuglingen, Kleinkindern, Jugendlichen, Schwangeren, Stillenden, älteren Menschen oder chronisch Kranken. Und empfiehlt stattdessen eine ausgewogene und genussvolle Ernährung, die sich an der Schweizer Lebensmittelpyramide orientiert, und bevorzugt aus regionalen und saisonalen Produkten besteht, die schonend zubereitet werden.
Du bist, was du isst
Flexitarier, Vegetarier, Veganer, Frutarier, Low Carb, Steinzeitdiät, Clean Eating... – die Liste an Ernährungsstilen und -trends ist lang. Essen ist längst nicht mehr nur Nahrungsaufnahme. Lebensmittel sollen nicht nur satt, sondern auch gesünder und schöner machen. Du bist, was du isst, gilt mehr denn je. Rohkost bildet hier keine Ausnahme. «Mit der Ernährung geht auch eine spezielle Lebensphilosophie einher», sagt Steffi Schlüchter. Iris Zajac sieht das ähnlich: «Rohkost ist eine bewusste Entscheidung und keine Diät. Und mit dieser geht einher, dass ich mich frage, wie trägt das, was ich tue, zu meiner Gesundheit, meinem Wohlbefinden und meinem Glück bei?»
Trotzdem ist Iris Zajac keine Hardlinerin in Sachen Ernährung. Allgemeingültige Regeln möchte sie nicht aufstellen, schliesslich hat jeder Mensch einen anderen Körper, Stoffwechsel und Lebensstil. Den Hype und die Aufregung um die richtige Ernährung sieht sie kritisch. «Viele Menschen werden bei der Ernährung sehr extrem.» Sie orientieren sich an Trends und aktuellen Studien, die schon bald durch neue ersetzt werden. Dabei gehe es doch darum, die Ernährungsform zu finden, die am besten zu einem passt. Um Ausgewogenheit statt Verzicht. Und darum, auf den eigenen Körper zu hören. «Der ist nämlich die beste Studie.»
Rohkost in der Schweiz
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Urs Strasser: Gourmet-Rohkost aus der Schweiz